Und sowas gfallt dir?
Das Arge
Ich begebe mich beim Musikhören gerne in das Außergewöhnliche. In die Nischen und Abgründe. Da ist es dunkel, laut, kompliziert. Was ist schon Wohlklang, wenn es viel superere Sachen zum Entdecken gibt?
Vieles aus diesem Beitrag ist möglicherweise für das ungeübte Ohr nicht auszuhalten. Aber das macht nix, man hört ja auch beispielsweise einen Wozzeck nicht einfach so, unvorbereitet. Oder irgendwas Arges von Skrjabin. Vieles erschließt sich erst gemeinsam mit den Texten, ich versuche ein wenig darauf einzugehen.
Es gibt natürlich wieder eine CD, aber auf vielfachen Wunsch aus meiner riesigen Fangemeinde hab ich diesmal zusätzlich eine Spotify-Playlist erstellt. Wer kein Spotify hat, braucht unbedingt die CD, weil ohne zu hören, wie das Beschriebene klingt, bringt das Geschriebene nix.
Die Notenzeilen in diesem Beitrag habe ich selbst erstellt, und zwar mit Noteflight, einem ganz wunderbaren Projekt. Die Bilder hab ich mir aus dem www rauskopiert, die kommen ganz einfach ohne Quellen.
Deftones: Elite
„When you’re ripe, you’ll bleed out of control…“ – schon recht verstörend, was der Chino Moreno aus Sacramento da singt. Oder besser: derart schreit, dass sein Zapferl am Gaumen anschlägt. Oder ist es einfach nur ein sehr intensives Flüstern? Von hinten, ins Ohr der von ihm angeprangerten Elite? „Your’re into depression, ‚cause it matches your eyes“ Und dann auch noch so schwebende Roboter-Effekte auf der Stimme. Gruselig.

Eher simple Ein-Noten-Riffs hat man bei den Deftones. Stark verzerrte Gitarre, damit es nicht so dünn klingt. Unisono mit dem Bass, dann klingt es noch fetter. In Kombination mit diesem wunderbaren Schlagzeuger, der alles exakt-o-mio auf den Punkt bringt. Und der Chino, der jammert, schreit, wimmert, schluchzt.
Für die, die ein Kasterl brauchen: Deftones ist Nu-Metal, obwohl die Band das nicht gern hört.

Dream Theater: Metropolis – Part 1
„The Miracle and the Sleeper“
Diese Nummer sticht ein wenig heraus aus der Sammlung. Aber warum? Weil melodisch? Eingängig? Weil der Sänger wirklich singen kann und nicht nur grunzt? Ja, vielleicht das alles. Aber wer die Nummer bis zum Schluss hört, aufmerksam und andächtig, versteht es vielleicht. So ein Stilmix! So verschwenderisch mit Ideen! Und so unglaublich virtuos. Zu viel, gegen Ende. Zu dicht! Aber ziemlich am Anfang, bevor der Sänger anfangt, dieses herrliche Rattata:

Und dann Rhythmuswechsel, ungerade Takte, fallen gelassene Achtelnoten. Alles höchst dramatisch! Der James LaBrie, der Sänger, singt mühelos mit voller Brust zum d“ rauf, hält dann ein ewiges h‘ und mach dann lustig weiter im oberen Register. Zack – wieder ein Stilwechsel. Rasende Läufe, Gitarre und Keyboard gemeinsam. Ein sehr seltsames Basssolo (um Minute 5:40). Nach 7 Minuten wird es komplett verrückt.
Die Platte ist 1991 heraus gekommen und stellt den internationalen Durchbruch für Dream Theater dar. Und das Genre Progressive Metal wurde auf eine neue Ebene gehoben.
Lamb of God: Reclamation
Jetzt: Growling. Growling, das ist die „böse Stimme“. Da wird der Ton nicht mit Hilfe der Stimmbänder sondern mit den Taschenbändern erzeugt, das sind Falten im Kehlkopf dicht über den eigentlichen Stimmbändern. Manchmal passiert es, dass beim Gähnen ein tiefer Grunzer ertönt, genau das ist das. Das kann man trainieren und isolieren und perfektionieren. Im Metal wird diese Technik gerne genommen, so auch hier bei Lamb of God. Der Sänger, der Randy Blythe, ist zwei Jahre älter als ich und macht das schon recht lange: Wenn man diese Technik so gut geübt hat wie er, dann wird die Stimme auch nicht kaputt bei der Anwendung. Der Randy kann zweierlei: Einerseits dieses grunzende Growlen, andererseits kann er ziemlich brachial schreien (screamen), da nutzt er dann doch seine echten Stimmbänder. Ich finde, er growlt ganz wunderbar, man versteht nämlich sogar den Text (wenn man ihn mitliest).
Humanity’s a failed experiment
Böse Menschheit. Böse!
Walking the path of extinction
Spinning its wheels endlessly
Grease them with oil and uranium
Das sind die ersten Zeilen. Wer’s nicht hört: Schwarzer Text ist Growling, roter Text ist Screaming, das klingt heller, schärfer.
Diese Nummer ist eine Beschwerde darüber, dass die Menschheit die Erde zerstört. Es wird hier der Spruch vertont: „Wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet Ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann„. Die große Öffentlichkeit kennt diesen Spruch, seit Greenpeace ihn 1981 am Schlot eines Kohlekraftwerkes angebracht hat. Bei Lamb of God wird er noch verwoben mit der Mythologie der Hopi aus Arizona, in der der Untergang der Vierten Welt, in der wir gerade leben, beschrieben wird: „Fire rains down, fire rains down. The 4th world comes to an end„
Das Ganze verpackt in eine einzige, riesige Steigerung, mit der ganzen Wut und Fassungslosigkeit, die bei dem Thema eigentlich angebracht ist. Richtig melodisch schön, die Gitarren, nicht? Gequält, verzweifelt. Ich krieg da eine Gänsehaut.
Die Platte ist aus 2009. Musiksortierer nennen dies Groove Metal. Ich tu mir mit so einer Einsortierung immer recht schwer, man hört da so viele Stile raus…
Nile: When My Wrath Is Done

Uiuiui, jetzt sind wir schon ganz tief drin in einer Nische. Der Mann auf der linken Seite im Bild oben ist der Karl Sanders, das Mastermind von Nile. Ansich ein netter Kerl, hat er ein Faible für altägyptische Schriften. Er meint, Niles Musikstil, der Technical Death Metal, passe unglaublich gut zu der archaischen Brutalität dieser 4500 Jahre alten Texte. In der vorliegenden Nummer geht es um den Zorn eines gewissen Khufu (der alte Name von Cheops), der nicht erfreut ist über Worte der Rebellion aus den Reihen seiner Untertanen:
When my patience is finished
Nile erklärt den Zorn eines Pharao
When the mercy of khufu is exhausted
When my subjects have failed me
And continued grace has become futile
Then will wrath
Seem the better part of discretion
…
Dieses dumpfe Gedröhne, das ist der Karl Sanders, und er singt obigen Text. Growlt, aber hallo! Wie eine böse Mumie aus dem Sarkophag. Aus den Tiefen der Zeit klingt das herüber.
Nile hat eine Geheimwaffe: Den George Kollias, einen Griechen. Der spielt abartig schnell Schlagzeug, und war so:
RRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRR
Es ist sensationell, man glaubt es kaum. Was mir an Bands wie Nile so taugt, ist diese Kompromisslosigkeit, mit der diese Musiker an ihr Werk herangehen. Das muss so schnell sein, auch wenn man ewig üben muss um das spielen zu können. Alles andere wäre falsch.
Karnivool: Goliath
Nun wieder etwas ein wenig Eingängigeres. Aber nur, wenn man nicht versucht, mitzuzählen! Wer hier die 1 verliert, findet sie nicht wieder. Ich bekomme bei dieser Nummer regelmäßig einen Knopf im Hirn.
Erst, als ich gelesen habe, dass diese Nummer in 27/4 (!) geschrieben ist, die man sich am besten so denkt: 7/4, 7/4, 7/4, 6/4, macht es manchmal Klick.
Ich zähl dann so: 1234 123 – 1234 123 – 1234 123 – 123456
Aber ich schaffe es nur, wenn ich von Anfang an mitzähle. Mittendrin einsteigen geht nicht. Ich habe es geschafft, die Basslinie rauszuschreiben, wir sehen die Stelle, wo der Sänger zu singen beginnt. Gemeinerweise wird hier die 1 vorgezogen, damit man sie auch ja nicht findet. Die Snare kommt auf 2 und 6 (bzw. manchmal 5):

Cis-Moll, im Refrain zu Cis-Dur moduliert. Toll, nicht? Wie der Sänger das macht, eine vom Beat komplett ungekoppelte Melodie zu singen, ist mir unerklärlich. Die spielen das live genau so, und haben auch noch Spaß dabei. Progressive Rock aus Australien.
Type O Negative: Haunted
Peter Steele wird von einer Sukkuba heimgesucht (ja, auch Dämoninnen gehören gegendert) und schreibt – natürlich – ein Lied darüber, mit einem Gedicht in der Mitte. Was passt da besser als der Gothic Metal dieser Band!

Dieses 2 Meter Viech ist das, Sänger und Bassist seiner Band Type O Negative (Die Blutgruppe 0 Negativ ist gemeint). Der Peter Steele ist leider schon tot, nach dem Überwinden einer schweren Drogensucht ist er nach 9 drogenfreien Monaten an einem Aortenaneurysma 2010 gestorben.
I hate the morning
Peter Steele
Die Nummer ist so langsam, man hält es fast nicht aus. Ich höre das im 4/4-Takt. Wenn man stur annimmt, dass die Snare des Schlagzeuges auf 2 und 4 kommt, ergibt sich folgendes:

Wir haben
, wohlgemerkt! Andere mögen 6/8 zählen, ich nicht.
Meshuggah: Do Not Look Down

So eine derart großartige Band… Seit 1987 sind Meshuggah unterwegs, ziehen ihr Ding durch und bilden eine ganz eigene Liga. Wie so viele andere Bands kommen sie aus Schweden und machen ihren ganz eigenen Experimental Metal.
It doesn’t really matter if something is hard to play or not. The thing is, what does it do to your mind when you listen to it? Where does it take you?
Mårten Hagström, Rhythmusgitarrist
Im Prinzip ist Meshuggah eine ganz normale Metalband, mit zwei Gitarristen, Bass, Schlagzeug und einem Sänger, der guttural singt. Wäre da nicht der Fokus auf… Ja, auf was? Kreativer Lärm? Keine Tonalität? Höchste Konzentration? Polyrhythmie? Letzteres nicht immer, manchmal sind die Nummern einfach im 4/4-Takt und nur interessant betont. Bei unserer Nummer allerdings passiert folgendes: Gitarren und Bass spielen ein Motiv, dass sich rhythmisch alle 17 Achteln wiederholt.

Das ist für sich schon recht schräg, man findet schwer hinein, obwohl der Drummer diesen schiefen Takt zuerst unterstützt. Aber dann, ab 0:23, rutscht ein Teil vom Schlagzeug (Blech und Snare) in einen 4/4 und spielt mit dem Sänger den geraden Takt. Der verbliebene Teil des Schlagzeuges, die Kick, spielt mit den Gitarren den 17/8 weiter. Alle 17 Takte treffen sich die beiden wieder. Das ergibt dann einerseits coole Sekunden und andererseits äußerst verwirrende Verschiebungen.
Ich kann ja nicht Schlagzeug spielen, aber bitte: wie viele Gehirne braucht man, um sowas spielen zu können? Mit den Händen 4/4, mit den Füßen 17/8?
Ich hab wieder mal den Bass rausgeschrieben, in einen 4/4, so sieht man die Verschiebung. Das Marcato > steht immer beim Start der 17/8 Figur. In Takt 18 ist der Beginn wieder auf 1.

Leprous: In Your Room
Eine Norwegische Progressive Metal Band namens (übersetzt) Leprös, mit einem Keyboarder als Leadsänger, dem Einar Solberg. Der eine Stimme hat wie ein Geist.

2001 gegründet, die erste Platte 2009 veröffentlicht. Hab ich schon die arge Stimme des Sängers erwähnt?
Vielleicht weiß das jemand: was macht der da ab Minute 4:14? Und dann bei diesem abartigen Schrei bei 4:40? Hilfe?! Kopfstimmen-Growl-Schrei-Dings? Ich weiß es nicht, mich gruselts nur.
Wie ein Geist.
Primus: Jerry Was A Racecar Driver
Bei Primus muss ich immer grinsen. Wir haben hier als Chef den Les Claypool am Bass, den ärgsten Ich-scheiß-ma-nix-Bassisten, den ich kenne.

Auf vielen Bässen kann man das garnicht spielen, weil man für den zweiten Teil des Riffes (noch ein Halbton höher als oben notiert) in Standardstimmung einen 25. Bund braucht. Die meisten Longscale-Bässe haben aber nur 24…

Ich hab das zwar in As-Moll notiert (die anderen im Internet machen das auch so), aber eine wirkliche Tonart haben wir da nicht. Wenn was Harmonisches zu hören ist, dann sind es nur Tritoni, des Teufels Intervall. Natürlich ohne Auflösung. Der Gitarrist bedient sich auch tüchtig und vermeidet jegliche Tonalität. Das Solo ist schnell, klar und singt, aber es trällert einfach nur so dahin. Der Refrain ist… Oag.
Das klingt trotzdem so unglaublich funky und ist irgendwie eingängig, nicht zuletzt durch das knochentrockene Schlagzeug. Alle machen Rhythmus, auch die, die Töne machen könnten.
Primus. Funk Metal? Alternative Crossover? Clowns? Genies? Man kann es nicht genau sagen.
YOB: Lungs Reach
Mike Scheidt war krank, todkrank. Irgendwas mit dem Darm, er ist fast daran gestorben. Mike hat eine sehr lange Zeit auf Intensivstationen verbracht, benebelt von schwersten Medikamenten. Diese Nahtoderfahrung hat er in Musik gegossen. Die Musik von YOB ist sowieso schon extrem, auf der Platte wo diese Nummer oben ist, ist sie noch ein wenig extremer. Ganz doomiger Doom Metal ist das. Ja, „Doom“ wie „Untergang, Verdammnis“

Lungs Reach heißt die Nummer, und „Lungs reeeeeaaaaaachchch“ ist auch das, was er da singt. Wobei – er singt nicht, er brüllt es. Wie ein verwundetes Monster. Wie man vielleicht durch einen Schmerzmitteldunst brüllen möchte, während man sich nicht rühren kann. Die erste Hälfte komplett befreit von jeglichem rhythmischen Korsett, findet das Lied ab der Mitte mit dem Einsatz des Schlagzeuges dann doch in einen schweren Beat. Mit 5:40 ist die Nummer ungewöhnlich kurz für YOB, sonst gibt’s da kaum was unter 10 Minuten. Die anderen Sachen sind ein wenig eingängiger, aber trotzdem: YOB. Gewaltig!
Crowbar: The Lasting Dose
Sludge at its best. Sludge wie Matsch, zäher Schlamm. So klingt das. Ich finde das die melodiöste Nummer in dieser Sammlung, so schön! Kirk Windstein heißt der zentrale Mann von Crowbar, Gitarrist und Sänger. Er schaut aus wie ein Kampfzwerg aus einem Rollenspiel, nicht? Der unten in der Mitte ist es.

Crowbar ist eine der Bands, die nie anders klingen dürfen als sie selbst! Die spielen keinen Stil, sondern sind selbst einer. Andere Bands werden beschrieben als: „klingt wie Crowbar“. Die AC/DC des Sludge. Muss man auch einmal schaffen, sowas.
Rammstein: Zeig Dich
Rammstein sind eigentlich einen eigenen 2000 Wörter Text wert, auch wenn es da schon so viel gibt. Eine Band, die provoziert, indem sie existiert. Ich mein, alleine dieses Bild:

Makeup, Kostüm, Blick, Habitus. Und diese Stimme. Das Foto ist von der letzten Tournee von 2019, ich war im Praterstadion. Was für ein Erlebnis! Das Stadion voller Feuer und Rauch! Perfekte Inszenierung! Perfekter Klang!
Bei den Texten von Till Lindemann geht es meist um eine Darstellung der Abgründe der menschlichen Seele aus der Ich-Perspektive. Hier, bei „Zeig Dich“ haben wir es mit einer Abrechnung mit den bösen Seiten der christlichen Kirche zu tun. Pseudo-Latein vom Chor zu Beginn, einfach nur für die Stimmung. (Murisuri? Echt jetzt?) Die Musik: Drängende, gestresste Gitarren. Harmonien schön vom Bass definiert. Rhythmisch zackig-deutsch, eher im 2/4 als im 4/4. Da wird nix synkopiert, alles schön auf Eins-Zwo gespielt. Der Text voller Alliterationen auf „Ver“, vorgetragen mit diesem wunderbaren kernigen Bass des Sängers.
Ganz großes Theater, diese Band. Das Genre wird Neue Deutsche Härte genannt.
Russian Circles: Geneva
Alle 4 Takte ist was anders. Es kommt eine Schicht dazu oder es ändert sich die Intensität oder es gibt einen zwar logischen, aber aprupten Wechsel. Ganz selten braucht eine Sequenz 8 Takte.
Wir hören immer nur drei Personen. Gitarre, Bass/Gitarre und Schlagzeug und einen Haufen Effektgeräte und Looper. Eine Stimme, gar mit Text, würde hier massiv die Harmonie stören, diese innige Verwobenheit der einzelnen Instrumente.

Musik, die keine Worte braucht, bekommt auch von mir keine Worte. Also bitte: Kopfhörer auf, anhören und drin verlieren!